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Depression: Wenn die Seele verhungert
Aktualisiert: 29. Okt. 2022
Ich hab es nicht bemerkt. Es kam schleichend. Das Einzige, was ich mitbekommen habe, war, dass ich keine Lust mehr hatte, morgens aufzustehen. Es war mir alles zu anstrengend und ich hab nicht verstanden, warum. Ich wollte auch gar nicht wissen, warum. Vielleicht doch wissen, aber der Aufwand darüber nachzudenken, war mir zu groß. Ich konnte Nächte lang nicht schlafen. Eigentlich keine Nacht mehr. Um 4 Uhr morgens war meine Nacht zu Ende. Ich war hundemüde; zu wach zum Schlafen, zu kaputt, um aufzustehen. Aber es nutzt ja nichts, das Rad dreht sich weiter; das Rad dreht dich weiter. Also auf auf! Der Tag ruft. Wie gerne hätte ich dem Tag eine reingehauen. Jedem Tag. Monate lang ging das so; keine Lust auf irgendwas, keine Lust auf irgendwen, alles anstrengend, alles zu viel. Alles ist irgendwie stumm geschaltet; dumpf. Alles von außen und alles im Inneren. Ich war nicht traurig, das kann ich nicht sagen. Ich war einfach leer, ein Vakuum. Ich war komplett ausgehöhlt und obwohl ich innerlich hohl war, konnte ich dennoch nichts aufnehmen. Keine Freude, aber auch keine Wut, keine Trauer. Hin und wieder bekam ich - wie man so schön sagt - einen "Nervenzusammenbruch". Dann heulte ich ein wenig und dann gings weiter. Reiß dich mal zusammen, sagte mein Kopf. The Show must go on. Du musst funktionieren.
So sah meine Depression aus. Wie lange ging das schon so? Wochen? Monate? Vielleicht auch Jahre? Wie lange macht man einfach weiter, bis man merkt, dass es einem nicht gut geht? Wann wird es einem bewusst?
Der Tag kam. Trotzdem verstrichen weitere Monate, bis ich an dem Punkt angelangt war, an dem gar nichts mehr ging. Ohne Plan kündigte ich einen Job, den ich schon zu lang machte und innerlich verabscheute, in den ich dennoch zu viel investierte. Ist es nicht so? Wenn wir lange genug in der Scheiße sitzen, stinkt es irgendwann nicht mehr. Du bist jetzt schon so lange dabei, das kannst du nicht einfach wegwerfen. Komisch, genau das denken wir auch über toxische Beziehungen und Freundschaften. Das Umfeld ist so mächtig. Das wäre jetzt aber ein anderes Thema ...
Noch gar nichts Neues in Aussicht war das das Gewagteste, was ich je gemacht habe. Ich muss schließlich auch meine Rechnungen bezahlen. Aber Gesundheit geht vor, dachte ich. Und dieser Gedanke hat sich seither nur gefestigt. Keine Arbeit auf dieser Erdkruste kann dir deine Gesundheit aufwiegen und kein "mach doch mal was Schönes" und "lach doch mal" verbessert eine Depression. Noch nie gehört, dass das funktioniert hat und auch nicht selbst erlebt.
C. G. Jung sagte einst:
"Ein Drittel meiner Patienten leidet an keiner klinisch feststellbaren Neurose, sondern an der Sinnlosigkeit und Leere ihres Lebens."
Machen, was uns liegt, machen, was wir können wollen, machen, was wir für richtig halten und ehrlich sein, sowohl zu uns selbst als auch zu unseren Mitmenschen, bewahrt uns selbst vor Leid, aus dem wir - manchmal auch nicht alleine - rauskommen können.
In seinem Buch Sorge dich nicht - lebe!, beschreibt Dale Carnegie, wie der bekannte Arzt und Psychotherapeut Alfred Adler Patienten mit einer Depression begegnet: Er sagte seinen Patienten, dass sie in 14 Tagen geheilt sein könnten, wenn sie seinen folgenden Rat beherzigten:
Sie sollten tun, was sie wollten, nicht, was sie müssten. Wenn die Patienten (typisch depressiv) entgegneten, dass es nichts gäbe, was ihnen Spaß mache, sagte er ihnen, dass sie dann wenigstens die Dinge unterlassen sollten, auf die sie keine Lust hatten.
Ich glaube, da ist wirklich was dran. Es fing an, mir besser zu gehen, nachdem ich Ballast abgeworfen hatte. Richtig schwere depressive Episoden lassen sich ausschließlich damit natürlich nicht kurieren, aber möglicherweise ist es ein kleiner Anhaltspunkt.
Check:
Wenn du den Verdacht hast, dass du oder jemand, den du kennst, an einer depressiven Erkrankung leiden könnte, findest du hier die Definition laut der International Classification of Diseases (ICD-10*, S. 132, F32 depressive Episode):
„Bei den typischen leichten, mittelgradigen oder schweren [depressiven] Episoden leidet die betroffene Person unter gedrückter Stimmung und einer Verminderung an Antrieb und Aktivität. Die Fähigkeit, sich zu freuen, das Interesse und die Konzentration sind beeinträchtigt. Ausgeprägte Müdigkeit kann nach jeder kleinsten Anstrengung auftreten. Der Schlaf ist meist gestört, der Appetit vermindert. Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen sind fast immer beeinträchtigt. Sogar bei der leichten Form kommen Schuldgefühle oder Gedanken der eigenen Wertlosigkeit vor. Die gedrückte Stimmung verändert sich von Tag zu Tag wenig, reagiert nicht auf Lebensumstände und kann von sog. „somatischen“ Symptomen begleitet werden wie Interessenverlust oder Unfähigkeit, sich zu freuen, Früherwachen, Morgentief, deutlicher psychomotorischer Hemmung, Agitiertheit, Appetit-, Gewichts- und Libidoverlust. Abhängig von Anzahl und Schwere der Symptome ist eine Depression als leicht, mittelgradig oder schwer zu bezeichnen.“
Falls du dich oder einen dir bekannten Menschen wiederfindest, mache Folgendes:
Im Notfall 116117 Anrufen (Ärztenotruf) oder die 0800 655 3000 bei seelischen Krisen
Geh zum Hausarzt und sprich mit ihm/ihr über deine Vermutung und lass dir ggf. eine Überweisung zum Facharzt (Psychiater) ausstellen
Aktuell herrschen (sehr!) lange Wartezeiten bei Fachärzten; gerade bei Psychiatern und auch bei Psychotherapeuten. Kümmere dich daher selbst am besten um einen Termin bei mehreren Psychotherapeuten. Viele Ärzte und Therapeuten arbeiten mit Wartelisten.
Tageskliniken und auch stationäre Aufenthalte sind in der Regel schneller verfügbar als ambulante Termine.
Wichtig: solltest du auf eine Warteliste kommen, wirst du regelmäßig (z. B. alle drei Monate) bei der entsprechenden Stelle anrufen müssen, sonst wird dein Name von der Liste genommen. Stell dir am besten einen Termin im Telefon, damit du es nicht vergisst.
Reden und präsent sein hilft. Sprich mit Freunden und Familie über deine Situation.
*Die IDC-10 ist nicht mehr die aktuellste Version in der Diagnostik; sie wurde im Februar 2022 durch die ICD-11 abgelöst. Diese liegt mir leider nicht vor, allerdings sind die Diagnosekriterien bzw. die Definition, wie oben beschrieben, nach wie vor gleich.